Kapitel 1 | Strafrecht und Sanktionen im Wandel
Unter einem Sanktionenregime versteht man die Gesamtheit expliziter oder impliziter Prinzipien, Normen und Regeln, die in sich vergleichbare Systeme von Sanktionenformen, -modalitäten und -dauern organisieren. Unter einem Regime können folglich mehrere Sanktionensysteme ausgebildet werden.
Das Sanktionenregime, das mit der Helvetischen Republik etabliert wird, setzt die Freiheitsstrafe ins Zentrum des Sanktionenregimes. In den Systemen, die sich in der Folgezeit ablösen, erhält die Hauptsanktion jeweils ein unterschiedliches Gewicht und wird in den unterschiedlichsten Formen definiert.
Im heutigen Sanktionenregime, das mit der Revision des Sanktionenrechts von 2002 ab dem Jahre 2007 umgesetzt wird, setzen sich die Geldstrafe, die gemeinnützige Arbeit und weitere Formen nicht freiheitsentziehender Sanktionen durch. Es kann angenommen werden, dass dieses neue Sanktionensystem auch ein neues Sanktionenregime begründet.
Es werden vier einander ablösende Sanktionensysteme untersucht, wobei mit dem Übergang ins neueste System gleichzeitig davon ausgegangen wird, dass ein Wechsel im Sanktionenregime von der Freiheitsstrafe zu nicht freiheitsentziehenden Sanktionen vollzogen wird. Die vier Systeme sind: zuerst dasjenige, das sich mit der Helvetischen Republik etabliert und nur die unbedingte Freiheitsstrafe kennt; dann dasjenige, das im Vorentwurf für ein schweiz. Strafgesetzbuch definiert und hinsichtlich Freiheitsstrafen stark differenziert (Zuchthaus-, Gefängnis- und Haftstrafe) wird, wobei neben den drei Freiheitsstrafen zusätzlich Massnahmen, die bedingte Entlassung, und eine Neuerung, der bedingte Vollzug einer Freiheitsstrafe, vorgesehen werden; das leicht veränderte System, das mit dem Schweiz. Strafgesetzbuch von 1937 ab 1942 umgesetzt wird und charakterisiert ist durch eine weitere Senkung der Strafdauern; schliesslich dasjenige ab 2007, das die nicht freiheitsentziehenden Sanktionen ins Zentrum des Sanktionensystems stellt.
Die bedeutendste Veränderung betrifft Platz, Stellung und Bedeutung der Freiheitsstrafe im Regime bis 2006, respektive Platz, Stellung und Bedeutung der nicht freiheitsentziehenden Strafen im Regime ab 2007. Die Veränderungen in den Sanktionensystemen sind weniger einschneidende, wie z.B. die Einführung des bedingten Vollzugs einer unbedingten Freiheitsstrafe oder des Aufschubs der Freiheitsstrafe bei therapeutischen Massnahmen. Während also beim Regimewechsel ein grundlegender Wandel des Sanktionensystems stattfindet, kann beim Systemwechsel nur ein gradueller beobachtet werden.
In der Darstellung der Veränderungen werden einerseits die Sanktionenformen, ihr Charakter und Dauer in Betracht gezogen, andererseits für einzelne Straftaten die Veränderung der angedrohten Strafen herangezogen.
Um 1893 hatte bereits die Mehrheit der Kantone die Todesstrafe abgeschafft. Zudem war sie zwischen 1874 und 1890 kaum mehr zur Anwendung gekommen. Schliesslich sah Carl Stooss, der Autor des Vorentwurfs, ihren Wert in der Kriminalpolitik als gering an.
Die Todesstrafe wurde gesamtschweizerisch 1874 durch die vom Volk angenommene Revision der Bundesverfassung abgeschafft. Die kaum 5 Jahre später dem Volk erneute Revision des Art. 65 BV, welcher es den Kantonen ermöglichen sollte, die Todesstrafe wieder einzuführen, wurde vom Volk knapp angenommen. 9 Kantone führten sie daraufhin wieder ein. Beschränkt auf wenige Tatbestände, kam ihr jedoch eine sehr kleine Rolle in den kantonalen StGB zu. Ebenso in der Praxis. Noch ganze 9 Mal wurde sie zwischen 1992 und 1940 angewandt.
Im Militär- bzw. Kriegsstrafrecht wird die Todesstrafe dagegen weiterhin Bestand haben, bis zur grossen Revision der Bundesverfassung von 1999. Zwischen 1939 und 1945 wurde sie 17 Mal vollstreckt.
In der Zeit der Helvetischen Republik erscheint die Freiheitsstrafe in vier Formen, als Kettenstrafe (Gemeinschaftshaft bei schwerer Arbeit), die für Frauen als Zuchthausstrafe definiert ist und ohne Ketten zu vollziehen ist, als Stockhausstrafe (Einzelhaft bei leichter Arbeit), und als Einsperrung. Während die Ketten im 19. Jahrhundert als schwerste Form der Freiheitsstrafen in allen Kantonen verschwinden (allerdings noch einige Jahrzehnte in den Gefängnissen angewandt werden), erscheint die Freiheitsstrafe Ende des 19. Jahrhunderts in neuem Gewand als Zuchthaus-, Gefängnis- und Haftstrafe. Obwohl sie in der Vollzugspraxis kaum je vollumfänglich umgesetzt wurde, wurde diese Dreiertrennung erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts formell aufgehoben. Seit 2007 wurde die Differenzierung der Freiheitsstrafe aufgehoben; neue ist sie als Einheitsstrafe definiert.
Zuerst können die Freiheitsstrafen im Zusammenhang mit der abstrakten, im Gesetz festgeschriebenen Dauer miteinander verglichen werden. Dann ist es möglich, die mittlere Dauer aller angedrohten Freiheitsstrafen nach Art der Freiheitsstrafe zu berechnen. Diese Grösse sagt etwas aus über das mittlere Strafmass einer Art der Freiheitsstrafe, z.B. im Falle der Kettenstrafe, wenn man alle Straftaten berücksichtigt, die mit einer Kettenstrafe zu sanktionieren sind.
Eine valide Vergleichbarkeit der abstrakten Strafmasse ist allerdings nur möglich, wenn vergleichbare, relativ stabil definierte Straftatbestände (z.B. Tötungsdelikt, Diebstahl, Raub) miteinander verglichen werden.
Waren die im Helvetischen Strafgesetzbuch definierten Strafmasse noch absolute, die keine richterliche Beurteilung des Verschuldens erlaubten, änderte sich dies kurz nach dem Ableben der Helvetischen Republik. Fortan galten Minima und Maxima der Strafdauer bei allen Straftaten.
Für sich betrachtet zeigen die vier Strafgesetzbücher, dass die Strafdauer bei allen Sanktionenformen gesunken ist. Trotz eines massiven Anstiegs der Anzahl der im Strafgesetzbuch definierten Straftaten gehen die mittleren Strafdauern aller Straftaten stets zurück, was ein Hinweis dafür ist, dass neben den schweren Verbrechen kaum neue hinzukamen, sieht man von den jüngst eingeführten Verbrechensformen wie dem Genozid ab, in denen schwerste Strafen angedroht werden.
Der Vergleich muss allerdings auf Ebene der einzelnen Straftaten geführt werden. Auch da kann ganz klar ein Abfall der Strafdauern beobachtet werden. Wichtig ist allerdings, dass die Mehrheit der früher ausschliesslich mit Zuchthaus und Gefängnis zu sanktionierenden Straftaten heute in der Mehrheit auch mit einer Geldstrafe geahndet werden können. Ein fundamentaler Wandel der Sanktionenweise bereits im Bereich der angedrohten Strafen.
Die Massnahmen sind die von Professor Carl Stooss in seinem Vorentwurf des Strafgesetzbuches vorgesehenen Sanktionenformen für Personen, die von den urteilenden Behörden als den Strafen nicht zugänglich beurteilt werden. Es kann sich um Personen mit psychischen Störungen, Suchtproblemen oder schweren sozialen Defiziten handeln. Ziel ist nicht die Bestrafung, sondern die Heilung; tritt diese ein, kann von der Durchführung der ebenfalls ausgesprochenen Strafe abgesehen werden kann. Die Formen der freiheitsentziehenden Massnahmen sind im Laufe des 20. Jahrhunderts einerseits verschärft worden, insbesondere in Bezug auf die Verwahrung und die Entlassung aus dieser Form von Massnahme, andererseits sind sie abgeschwächt worden, indem die Möglichkeit eingeführt wurde, Massnahmen ambulant zu vollziehen.
Von allen 344 im StGB definierten Straftaten müssen im 2002/2006 revidierten Strafrecht nur noch 49 notwendigerweise mit einer unbedingten Freiheitsstrafe sanktioniert werden. Dagegen kann die Geldstrafe nun bei 257 Straftaten ausgesprochen werden, wobei im Falle nicht schwerwiegender Straftaten auch die Aussprache einer gemeinnützigen Arbeit möglich ist. Die Geldstrafe ist zur vorherrschenden Sanktionenform geworden. Der Freiheitsstrafe kommt deshalb eine Rolle als Ultima-ratio-Sanktion zu, wobei in der Anwendung dieser Sanktionenform durch die urteilenden Behörden viele weitere Faktoren eine Rolle spielen – so z.B. die Tatsache, dass eine Person ohne Wohnsitz in der Schweiz eher mit einer unbedingten Freiheitsstrafe denn mit einer Geldstrafe zu rechnen hat, da die Gefahr besteht, dass sie sich der Strafe entziehen könnte.
Der beobachtete Trend der zunehmenden Zurückdrängung der Freiheitsstrafe wird im Zusammenhang mit dem Wandel von Disziplinierungstechniken in der zeitgenössischen Gesellschaft verstanden. Spielten in der vormodernen Zeit Körper- und Todesstrafen eine zentrale Rolle, ging es in den Zeiten der Industrialisierung um die Disziplinierung der Menschen. In den heutigen Zeiten der Informations- und Kommunikationsgesellschaft scheint das Strafrecht immer mehr distanzierte Formen der Kontrolle aufzubauen und den sanktionierten Menschen die Selbstkontrolle zu übertragen. Die nicht freiheitsentziehenden Sanktionenformen überwiegen heute; der äusserliche Zwang, verkörpert in den hohen Gefängnismauern, ist einem selbstauferlegten Zwang gewichen, der nur noch sanft mittels Überweisung oder distanzierter Anwesenheitskontrolle begleitet wird. Die Entwicklung wird im Zusammenhang mit einem Zivilisationsschub gesehen, einem Theorem, das auf den Soziologen Norbert Elias zurückgeht.