Kapitel 2 | Freiheitsentzug im Rückgang

FS201: Wie steht die seit der Verfassung der Helvetischen Republik von 1798 verbürgte Freiheit der Person mit Freiheitsentzug in Zusammenhang?

Die Bestimmungen zur Freiheit der Person als Grund­recht des Rechts­staates, verbürgt in der Verfassung, finden ihr Gegenstück in denjenigen zum Freiheitsentzug, sieht der Rechts­staat doch vor, dass die Freiheit auf Grund rechtlicher Bestimmungen beschränkt werden kann. Damit sollte die Praxis willkürlicher Anordnung von Ein­sperrung in den Zeiten vor der Französischen Revolution verhindert werden.
Artikel 5 der Verfassung der Helvetischen Republik hielt fest: «Die natürliche Freiheit des Menschen ist unveräusserlich.» Weiter wurde darin festgehalten, dass diese nur beschränkt werden könne durch «Verfügungen, welche das allgemeine Wohl erheischt.» Auf diese rechtliche Grund­lage stützten sich das Peinliche Gesetzbuch, das Bestimmungen über verschiedene Formen der Freiheits­strafe enthielt, und die Zirkulare (u.a. das vom 31. August 1798 zum provisorischen Rechts­gang in Kriminalsachen), die die Durch­führung von Untersuchungs­haft regelten.

FS202: Wie hat sich der Freiheitsentzug im längerfristigen Zeitverlauf differenziert?

Freiheitsentzug kam um 1800 vor allem in zwei Formen vor: als Untersuchungs­haft und Strafvollzug. Vereinzelt gab es in den Kantonen weitere Formen des Freiheitsentzugs. Auf Bundesebene wird, im Zusammenhang mit dem Abschluss von Rechtshilfeabkommen, die Auslieferungshaft ins Bundesrecht aufgenommen. Während des 19. Jahrhunderts wird zudem in vielen Kantonen ein Polizeirecht geschaffen, das es erlaubt, eine Person für kurze Zeit in Polizei­haft zu nehmen.

Die im Vorentwurf des Strafgesetzbuches vorgesehenen verschie­denen Formen von freiheits­entziehenden Mass­nahmen haben zuerst das kantonale Recht erweitert, später sind sie ins Straf­gesetz­buch eingegangen. Bereits kurze Zeit vor der Inkraftsetzung des StGB im Jahre 1942 wurde die Möglichkeit geschaffen, ausreise­unwillige Ausländer zu internieren (Bundes­gesetz über den Aufenthalt und die Nieder­lassung der Ausländer ANAG). Auf den Beginn des 20. Jahrhunderts fällt auch die Schaffung von admini­strativer Verwahrung auf Basis kantonaler Gesetze, die vor allem gegen Personen ohne Wohnsitz und auffälliges Verhalten, z.B. Alkoholismus, eingesetzt wurde. Schliesslich muss noch die Einführung der fürsorge­rischen Freiheits­entziehung erwähnt werden, die auf der rechtlichen Grundlage des Zivil­gesetzbuches angeordnet werden konnte.
Zum Teil abgeschafft, zum Teil neu definiert, kann Freiheits­entzug heute auf Grund von Polizei­gesetzen, Straf­prozess­ordnung, StGB, ZGB, AuG, neben anderen Gesetzen, angeordnet werden, zum Teil als administrative Massnahme, zum Teil als richterliche Entscheide.

FS203: Wie stehen die einzelnen Formen des Freiheitsentzugs zueinander?

Die wichtigste Differenzierung betrifft den Charakter des Freiheits­entzugs, der stark mit den entscheidenden Behörden in Zusammen­hang steht. Einerseits können die administrativen Formen des Freiheits­entzugs (heute v.a. Zwangs­massnahmen, fürsorgerische Unter­bringung, Auslieferungs­haft) von denjenigen unterschieden werden, die von den Behörden der Straf­justiz angeordnet werden (U-Haft, Sicherheitshaft, Straf- und Massnahmen­vollzug). Unter letzteren kann nochmals unterschieden werden in Formen des Freiheitsentzugs, welche nicht verurteilte beziehungsweise verurteilte Personen betreffen.  

FS204: Welches sind die quantitativen Verhältnisse der verschiedenen Formen des Freiheitsentzugs um 1900 und um 2000? Welche Trends werden beschrieben?

Um 1900 gibt es rund 65'000 Einweisungen in die U-Haft, bei 900 Personen im Bestand am Ende des Jahres. Beim Vollzug dürften es rund 10–12'000 Einweisungen gewesen sein, bei einem Bestand von 3100 Personen, zusammen 4000 Personen, oder gewichtet mit den Bevölkerungszahlen rund 120 Insassen pro 100'000 Einwohner.

Zwischen 2007 und 2010 sind die Einweisungen in die Untersuchungs­haft in absoluten Zahlen um rund die Hälfte (von 65'000 auf 35'000) gesunken, während die Bestandes­zahlen um das Zweieinhalbfache gestiegen sind, von 900 auf 2400, Hinweis für eine zurückhaltendere Anordnung von Untersuchungshaft wie auch für den Rückgang von schwerwiegenden Straftaten. Wurden knapp 19'000 Eintritte in den Strafvollzug gezählt, waren es hundertzehn Jahre später weniger als die Hälfte in den Jahren 2007 bis 2010. Je nachdem, ob die vorzeitigen Vollzugsantritte mit den Vollzugszahlen zusammen­genommen werden oder nicht, stieg der Bestand um die Hälfte, sonst kann von einem leichten Anstieg gesprochen werden. In relativen Zahlen sind jedoch sowohl Einweisungen wie Bestände in Untersuchungshaft und Strafvollzug stark gesunken, werden doch heute noch 85 Insassen pro 100'000 Einwohner gezählt.

FS205: Die Anordnung von Untersuchungshaft (Eintritte und Bestand pro 100 000) ist langfristig rückgängig, diejenige der angerechneten Untersuchungshaft bei Aussprache einer unbedingten Freiheitsstrafe in den letzten 25 Jahren stabil. Erläutern Sie diese.

Der Rückgang der relativen Eintritts- und Bestandes­zahlen in der Untersuchungs­haft steht im Zusammen­hang mit einer zurück­haltenderen Anordnung von Untersuchungs­haft wie auch für den Rückgang von schwer­wiegenden Straftaten. Setzt man die Eintritte der letzten 25 Jahre in Bezug zu den mit einer unbedingten Freiheits­strafe sanktionierten, die auch eine angerechnete Unter­suchungs­haft enthalten, so stellt man fest, dass rund die Hälfte der in Untersuchungs­haft gesetzten Personen anschliessend nicht zu einer unbedingten Freiheits­strafe verurteilt wurden. Siehe die Abbildungen 2.5. und 2.6 im zweiten Kapitel.

FS206: Welche Innovationen im Strafrecht haben zur Zurückdrängung der Anwendung der Freiheitsstrafe beigetragen? Erläutern Sie den quantitativen Einfluss der verschiedenen Massnahmen.

Als erste Massnahme, die bereits in der Mitte des 19. Jahrhun­derts eingeführt wurde, muss die bedingte Entlassung erwähnt werden. Sie wurde immer mehr ausgebaut, bis sie zur 4. Stufe des Vollzugs wurde und einen gewissen obligatorischen Charakter erhielt. Durch diese Mass­nahme wird die gesamte Summe aller Strafdauern um rund einen Drittel reduziert, wobei leider eine genaue Analyse bisher noch nie veröffentlicht wurde.
Als zweite Massnahme ist die Aussprache der bedingt zu vollziehenden Freiheits­strafe aufzuführen. Vor dem Wechsel ins neue Sanktionen­system wurden rund 75% aller Freiheits­strafen bedingt ausgesprochen, wobei jedes Jahr rund 15% widerrufen wurden.

Weiter sind Massnahmen wie die ambulanten Massnahmen mit Straf­aufschub zu erwähnen, die aller­dings nur wenige hundert Fälle ausmachen. Von viel grösserer quantitativer Bedeutung war die gemein­nützige Arbeit, welche zwischen 1990 und 2006 an Stelle einer unbedingten Freiheits­strafe geleistet werden konnte – bis 5000 Einweisungen in den Freiheitsentzug wurden so vermieden. 2007 wurde die gemein­nützige Arbeit zur eigenständigen Sanktion. Schliesslich sei noch der quantitativ unbedeutende elektronisch überwachte Straf­vollzug erwähnt, der seit 1999 und bis auf weiteres an Stelle einer unbedingten Freiheits­strafe angetreten werden kann. In den letzten 10 Jahren wurde zudem in einzelnen Kantonen ein Pilot­projekt aufgebaut, um Personen, die mit einer unbedingten Freiheits­strafe sanktioniert wurden, die Möglichkeit zu bieten, diese über die Teil­nahme an einem sogenannten Lern­programmen «abzuleisten». Auch hier wurde bisher eher mit Dutzenden von Klienten gearbeitet denn mit Hunderten.

Gesamthaft dürften die Massnahmen zur Verhinderung des Vollzugs von Freiheits­strafen bis 2006 weit über 85% aller Strafen ausmachen. Durch die Revision des Sanktionen­rechts einerseits, durch die schwerpunkt­mässige Sanktionierung von nicht in der Schweiz wohnhaften Ausländern andererseits hat sich die Situation der Sanktions­praxis in den Jahren seit 2010 stark verändert.

FS208: Welche weiteren Indikatoren sollten beim Vergleich längerfristiger Trends der Anwendung von Freiheitsentzug verwendet werden?

In der im zweiten Kapitel vorgestellten Analyse wurde davon ausgegangen, dass die Umwelt­faktoren gewisser­massen stabil sind beziehungs­weise, dass man ausgehend von der Entwick­lung der bedingten und unbedingten Freiheits­strafe auf die Kriminalitäts­entwicklung schliessen könne. Dies ist natürlich nur bedingt der Fall, denn im länger­fristigen Vergleich könnten sich das Kriminalitäts­aufkommen, die Straf­verfolgungs- und die Verurteilungs­rate verändert haben. Einen weiteren entscheidenden Einfluss auf die Sanktions­weisen hat natürlich die Veränderung der Vorstellung der gerechten Strafe, in den Staats­anwaltschaften, in der Richter­schaft wie auch in der Öffentlich­keit.

FS209: Inwiefern kann in der Schweiz von einer Humanisierung der Praxis des Freiheitsentzugs gesprochen werden?

Die Entwicklung des Rückgriffs auf die Untersuchungshaft und die Freiheits­strafe belegt, dass diese Formen des Freiheitsentzugs im Verhältnis zur Bevölkerungs­entwicklung zurückgedrängt wurden. Indem eine Strafe eine Übelzuführung darstellt, Aus­druck des staatlichen Gewalt­monopols ist, kann davon ausge­gangen werden, dass mit der zunehmenden Anwendung von nicht freiheits­entziehenden Strafen von einer Humanisierung der Praxis des Freiheits­entzugs gesprochen werden kann. Lange fand sie in Form der Aussprache von bedingten Freiheits­strafen und in Form alternativer Vollzugs­formen unbedingter Freiheitsstrafen statt. Seit neuestem steht allgemeiner die Humanisierung des Sanktionierens im Zusammen­hang mit der Aussprache von Geld­strafen und anderen nicht freiheits­entziehenden Sanktions- und Vollzugs­formen.