Kapitel 5-8 | Freiheitsentzug in den Kantonen

FS801: Wann bauen die vier beschriebenen Kantone ihre zentrale, grosse Vollzugsanstalt?

Im Kanton Genf wird explizit im Hinblick auf den Vollzug der Freiheitsstrafen 1825 die Prison pénitentiaire eröffnet, dem ersten auf zwei Flügeln mit Einzelzellen aufgebauten Vollzugsgefängnis. Im Kanton Neuenburg setzt die Modernisierung der Gefängnisse zwar bereits 1828 mit der Inbetriebsetzung der Prison de Neuchâtel, die nur Einzelzellen hat, statt. Der entscheidende Schritt in den modernen Strafvollzug vollzieht sich allerdings erst mit dem Bau des Pénitencier du Saarberg im Jahre 1870, dem Zuchthaus vor den Toren von Neuenburg. In Basel-Stadt wird dagegen die grosse, dem Vollzug gewidmete kantonale Strafanstalt Schällemätteli 1864 eröffnet, die modernsten damaligen Standards des Vollzugs entspricht. Im Kanton Basel-Landschaft wird ein modernes, mehreren Haftformen dienendes Gefängnis erst Ende des 19. Jahrhunderts gebaut. In Zürich ist die Lage schwieriger; auf der einen Seite dient das Oetenbach-Kloster der Durchführung aller Haftarten, wobei bereits in den 1830er-Jahren versucht wird, in den bestehenden Gebäulich­keiten den Vollzug nach moderneren Standards durchzuführen, u.a. indem auch Einzelzellen erstellt werden. Der Durchbruch des modernen Straf­vollzugs findet allerdings erst mit der Eröffnung der kantonalen Straf­anstalt Regensdorf, der fünfflüge­ligen Vollzugs­einrichtung im weiteren Hinterland der Stadt Zürich. Es kann festgehalten werden, dass die Umsetzung eines modernen Strafvollzugs in den vier Kantonen nach eigenen Tempi und in unterschied­lichem Umfang stattfindet.

FS802: Wann setzt die Modernisierung der Untersuchungs- bzw. die der Untersuchungshaft dienenden Bezirksgefängnisse in den beschriebenen Kantonen ein?

Im Kanton Genf muss das System des Freiheitsentzugs durch den Abbruch der Prison pénitentiaire im Jahre 1864 neu strukturiert werden. Während der Neubau der Prison de l’Evêché nun dem Vollzug dient, wird das vorgängig umgebaute Gebäude der Prison de St. Antoine für die Untersuchungshaft eingesetzt. Erneut völlig umgebaut wird das System des Freiheitsentzugs im Kanton Genf 1977 mit der Eröffnung der Prison de Champ-Dollon.  Im Kanton Neuenburg dienen nach 1800 neben der Tour des Prisons verschiedene Gendarmerie- bzw. Polizeiposten und auch Schlösser der Durchführung von Untersuchungs­haft. Mit der Eröffnung des Pénitencier de Saarberg im Jahre 1870 wird die Prison de Neuchâtel vermehrt für Untersuchungshaft genutzt. Die Lage verbessert sich im Kanton insofern, als mit dem Bau des Gendarmerie-Postens von La Chaux-de-Fonds Ende des 19. Jahrhunderts auch ein kleines Gefängnis erstellt wird. Im Kanton Basel-Stadt wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts das frühere Lohnhof-Kloster für die Untersuchungshaft eingerichtet und in mehreren Etappen regelmässig ausgebaut, während im Kanton Basel-Landschaft verschiedene kleine Gefängnisse meist an einen Polizei­posten angebaut sind, in denen Untersuchungshaft und kurze Strafen vollzogen werden. Auf Grund seiner Grösse und seiner territorialen Organisation mit Bezirken wird im Kanton Zürich die Unter­suchungshaft meist in den Bezirksgefäng­nissen durchgeführt; in der Stadt im Oetenbach-Kloster. Um 1901 wird das Polizeigefängnis in der Polizei­kaserne der Kantonspolizei eröffnet und 1926 das eigentliche Untersuchungs­gefängnis der Stadt Zürich in Betrieb genommen.

FS803: Welche zeitgenössischen Umbauten, d. h. rund um die 1990er-Jahre, der Systeme des Freiheitsentzugs können Sie für die verschiedenen Kantone beobachten?

Im Kanton Genf findet die Modernisierung mit der Eröffnung der Prison de Champ-Dollon bereits 1977 statt. In der Folge werden viele kleinere Vollzugseinheiten eröffnet, die den verschiedenen Haft- und Vollzugsformen, die in den 1970er-Jahren ins StGB aufgenommen worden waren, dienen sollen. Das System bleibt dann lange Zeit sehr stabil, bis zur Eröffnung 2008 der Prison de la Brenaz und der jüngsten Baueuphorie nach 2010 (Annexbau zu Champ-Dollon; Umsetzung von Curabilis; Bau der Prison de la Brenaz II, Planung eines grossen Ausschaffungsgefängnisses).

Im Kanton Neuenburg findet ebenfalls Ende des Jahrhunderts ein Umbau des Systems des Freiheitsentzugs statt, indem nicht nur die Prison de Neuchâtel 1995 geschlossen wird, sondern auch alle noch bestehenden Zellen in den Polizei­stationen. Während die Untersuchungshaft hauptsächlich in La Chaux-de-Fonds durchgeführt wird, werden mittlere Strafen in der Vollzugs­einrichtung in Gorgier abgesessen. Beide Gebäude werden gegenwärtig renoviert und erweitert.

Auch der Kanton Basel-Stadt reorganisiert den Freiheits­entzug nach den 1970er-Jahren, einerseits durch die zusammen mit dem Kanton Zug gebaute und betriebene Interkantonale Strafanstalt Bostadel, andererseits mit dem Neubau des Untersuchungs­gefängnisses im Waaghof. Etwas verzögert findet der Bau eines für den Kanton überdimensionalen Ausschaffungs­gefängnisses statt. Nach jahrelangem Zaudern sowie Hü- und Hott-Entscheiden weicht schliesslich das leerstehende Schällemätteli einem Forschungs­neubau. Die Entwicklung im Kanton Basel-Landschaft ist dagegen gekennzeichnet von einem klaren Abbau der Kapazität gegen Ende des 20. Jahrhunderts, der allerdings nach 2010 wieder wettgemacht wird (Eröffnung des Gefängnisses in Liestal; Eröffnung des Justizzentrums in Muttenz mit integriertem Unter­suchungs­gefängnis).

In Zürich findet eine umfassende Modernisierung des Systems des Freiheitsent­zugs ab 1990 statt, einerseits mit der Eröffnung der heute Justizvollzugs­anstalt genannten Einrichtung Pöschwies, andererseits mit den Neubauten des U-Haft- bzw. Ausschaffungs­gefängnisses auf dem Flughafengelände oder dem provisorischen Polizeigefängnis. Schliesslich werden auch die Bezirks­gefängnisse modernisiert, die Einrichtungen für Jugendliche (Justizvollzugszentrum Limmattal), junge Erwachsene (Massnahmenzentrum Uitikon) und diejenige für psychisch kranke Straftäter (Rheinau)

FS804: Wie abhängig sind die beschriebenen vier Kantone von anderen Kantonen für den Vollzug von Freiheitsentzug?

Die Abhängigkeiten unter den Kantonen sind vielgestaltig. So muss der Kanton Genf, wenn es um den Vollzug langer Strafen von Männern geht, auf den Kanton Waadt und dessen Vollzugs­einrichtung Plaine de l’Orbe ausweichen. Er gelangt ebenfalls an den Kanton Waadt, wenn Frauen längere Strafen abzusitzen haben und in der Prison de la Tuilière untergebracht werden müssen. Neuenburg platziert Personen ebenfalls in den Etablissements de la Plaine de l’Orbe oder der Prison de la Tuilière im Kanton Waadt bzw. in der offenen Anstalt Witzwil des Kantons Bern oder in den Etablissements de Bellechasse des Kantons Freiburg. Auch Jugendliche müssen für den Vollzug von Mass­nahmen oder von Freiheits­entzug in andere Kantone verlegt werden.

Im Kanton Basel-Stadt werden Vollzüge in der Interkantonalen Anstalt Bostadel oder der Justizvollzugsanstalt Lenzburg durchgeführt; bei kürzerem, offenem Vollzug muss auf die Anstalten Schöngrün, Witzwil oder bei Mass­nahmen auf Deitingen oder St. Johanssen ausgewichen werden. Für die Durch­führung der weiteren Haftformen ist der Kanton allerdings gut ausgerüstet. Dies ist im Falle des Kantons Basel-Landschaft dagegen weniger der Fall, der nur Untersuchungs­haft und kurze Strafen selber vollzieht – tatsächlich kommen die anderen Formen von Inhaftierung kaum vor.

Die Lage ist im Kanton Zürich, wie im Beitrag dazu ausgeführt wird, eine völlig andere, indem er für die Durch­führung aller Formen von Freiheits­entzug führend ist und in allen Bereichen Personen aus anderen Kantonen aufnimmt. Der einzige Schwach­punkt liegt im Bereich des offenen Vollzugs, wo sich der Kanton Zürich auf andere Kantone abstützt.

FS805: Wägen Sie die in den Titeln angesprochenen zentralen Entwicklungstrends der kantonalen Systeme des ­Freiheitsentzugs gegeneinander ab.

Während der Kanton Genf über die ganze in Betracht gezogene Zeit immer wieder mit Überbelegungen zu kämpfen hatte, obwohl in dessen Freiheitsentzug der Durch­führung von Untersuchungs­haft und Kurzstrafen die Priorität eingeräumt wurde, scheint der Kanton Neuenburg viel weniger vom Phänomen der Über­belegung betroffen gewesen zu sein. Anders als der Kanton Genf, der in der Geschichte Innovatio­nen im Bereich des Strafvollzugs immer positiv gegenüber stand, war dies im Kanton Neuenburg nur im 19. Jahrhundert der Fall, als noch die Radikal-Liberalen moderne Reformen forcierten. Im 20. Jahrhundert hat sich der Kanton dadurch ausgezeichnet, dass er kaum je an Moderni­sierungs­prozessen im Bereich Strafrecht und –vollzug beteiligt war. Auch hier scheint der Titel das wichtigste einzufangen. Basel-Stadt hatte zwar lange eine breite Palette von Vollzugs­möglich­keiten, "kauft" diese heute allerdings seit dem Bau der Interkantonalen Strafanstalt Bostadel oder der basellandschaftlichen Einrichtungen für junge Erwachsene Arxhof in verschiedenen Gebieten ein. Als grosser Kanton verfügt der Kanton Zürich über nahezu alle Einrichtungs­arten, ausser im Bereich des offenen Vollzugs, wo er sich auf andere Kantone abstützt. Hinkte die Moderni­sierung des Straf- und Vollzugs­systems im 19. Jahrhundert eher hintendrein, war der Kanton – wie der Titel des Beitrages aussagt – im ausgehenden 20. und angehenden 21. Jahrhundert führend.

FS806: Welche Stärken sehen Sie in den vier beschriebenen Systemen des Freiheitsentzugs?

Die immer wieder Innovationen gegenüber förderliche Haltung des Kantons Genf in Sachen Straf- und Strafvollzug ist sicherlich eine seiner Stärken. Weder bei Neuenburg noch bei Basel-Stadt kann von Stärken des Systems des Freiheits­entzugs gesprochen werden, ausser die Tatsache, dass sie sich auf Grund ihrer Kantonsgrösse mit anderen Kantonen zusammentun mussten und insofern wahrschein­lich kosten­günstigere Lösungen fanden als andere Kantone. Die Grösse und Finanz­stärke des Kantons sowie die politische Besetzung von Justiz- und Polizei­departement haben dazu beigetragen, dass der Kanton Zürich, vielleicht neben dem Kanton Bern und der Waadt, über die breiteste und platzreichste Palette an Einrich­tungen des Freiheits­entzugs verfügt.

FS807: Wo finden Sie Schwächen der vier Systeme?

Problematisch ist im Kanton Genf die zurückhaltende Vorgehens­weise bei der Umsetzung von Innova­tionen und die Akzeptanz einer immer wieder galoppie­renden Überbelegung der Gefängnisse, insbesondere im Bereich der Untersuchungs­haft gegen Ende der 1970er-Jahre und seit 2000.

Im Kanton Neuenburg ist der strafrechtliche Immobilis­mus des 20. Jahrhunderts ein wichtiger Schwach­punkt, der sich dadurch äusserte, dass er keine der zeitgenössi­schen Innovationen im Bereich des Sanktions­vollzugs rechtzeitig umsetzte (Einführung der Gemein­nützigen Arbeit, Einführungs­möglichkeit der Fussfessel, Lern­programme, Mediation, usw.), dies obwohl in diesem Kanton immer noch sehr viele kurze Freiheits­strafen ausgesprochen werden.

Auf Grund der extremen Breite des Vollzugs­angebots und des Platz­angebots können beim Kanton Zürich kaum Schwach­stellen ausgemacht werden; indem die Auslagerung eines Teils des offenen Vollzugs absichtlich geplant wurde, ist hier kein Mangel zu diagnostizieren.

FS808: Beschreiben Sie die wichtigsten Entwicklungsetappen des Systems des Freiheitsentzugs in Ihrem Kanton.

Wir freuen uns auf Ihre Antwort, die wir gerne kommentieren. info@gefo.ch

FS809: Finden Sie zu Ihrer Beschreibung einen ansprechenden Titel, welcher den Entwicklungstrend am besten darstellt?

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