Kapitel 9 | Sanktionspraxis: grosse kantonale Unterschiede

FS901: Welche verfassungsmässige Grundfrage wird im Zusammenhang mit der Urteils- und Sanktionspraxis der Kantone aufgeworfen?

Zentralistische Staaten haben eine der Verwaltung immanente Tendenz, das staatliche Handeln zu verein­heitlichen. Bei föderalistischen Staaten ist dies weniger der Fall, v.a. wenn die Umsetzung von Gesetzen den Teil­staaten über­lassen wird. Deshalb ist die Frage nach der Gleichheit vor dem Gesetz nicht nur eine Frage des Geschlechts, der Herkunft, neben vielen anderen, sondern auch eine föderalistische.

Im Kapitel 9, "Sanktionspraxis – grosse kantonale Unter­schiede" wird die Frage nach der kantonalen Urteils- und Sanktions­praxis dahingehend untersucht, ob die Gleichheit vor dem Gesetz gewähr­leistet wird.

FS902: Inwiefern können Unterschiede in der Urteils- und Sanktionspraxis der Kantone begründet bzw. gerechtfertigt werden?

Unterschiede in der Urteils- und Sanktions­praxis werden beeinflusst durch Kriminalitäts­niveau und -schwere, weiter durch die finanziellen und personellen Ressourcen, die den Polizei- und Straf­verfolgungs­behörden zur Verfügung stehen, durch die Prioritäten­setzung in der Straf­verfolgung wie auch durch unter­schiedliche Zusammen­setzungen der Gerichts­behörden. Dies sind oft auch die Gründe, die angeführt werden, wenn es darum geht, Unter­schiede in der Häufigkeit der Straf­verfolgung und in der Sanktionen­weise unter den Kantonen zu rechtfertigen.

FS903: Wie wird zur Zeit der Helvetischen Republik versucht, den bekannten Unterschieden in der Urteils- und Sanktionspraxis Herr zu werden?

Das Ministerium erlässt einerseits Weisungen zur Harmoni­sierung der Praxis; andererseits wird versucht, über regelmässige Bericht­erstattung und Statistiken, die Umsetzung der Weisungen zu kontrollieren. Die Kantone werden angehalten, über­proportionale Anordnung von Unter­suchungshaft oder deren besondere Dauer zu begründen. Im Bereich des Strafvollzugs wird ein Gefängnis­inventar durchgeführt, um die vorhandenen Gefängnis­plätze rationeller einsetzen zu können und Insassen unter den Kantonen zu verteilen. Zudem wurden Gut­achten in Auftrag gegeben, die helfen sollen, den Grad der Umsetzung der Urteils- und Gefängnis­politik zu beurteilen, siehe u.a. den Bericht von B.F. Kuhn im Kapitel 11, Seite 185.

FS904: Welche Unterschiede können in der Urteilshäufigkeit zwischen den Kantonen beobachtet werden? Welche Entwicklung lässt sich anhand der drei Beobachtungsmomente ausmachen?

Die Urteilshäufigkeit wird anhand von Daten des Strafregisters der Jahre 1910, 1960 und 2010 beurteilt. Lässt man die Extreme weg, teilten sich die Kantone im Jahre 2010 in zwei grosse Gruppen auf, eine erste mit rund 1500 Verurtei­lungen pro 100’000 Einwohner und eine zweite mit rund 1000 Verurtei­lungen pro 100’000 Einwohner. Die erste umfasst insbe­sondere die Kantone mit urbanen Zentren und die Romandie, mit der einen oder anderen Ausnahme, wie z.B. der Kanton Zürich. Die andere Gruppe betrifft die kleineren oder ganz kleinen Kantone.

Im Zeitablauf kann ein starker Anstieg beobachtet der Urteils­häufigkeit beobachtet werden; wurden 1910 rund 400 Verurteilungen pro 100’000 Einwohner registriert, so waren es 1960 rund 750 und 50 weitere Jahre später nochmals nahezu doppelt so viele Verur­teilungen pro 100’000 Einwohner auf. Dazu muss gesagt werden, dass dieser Anstieg nicht mit dem Anstieg der klassischen Kriminalität in Zusammen­hang steht, sondern mit der Strassen­verkehrs­delinquenz. Erst in den 1980er-Jahren nehmen zuerst die Drogen­delikte zu, später dann auch Straf­taten gegen das Ausländer­gesetz und erst seit 2004 nahmen die Straf­taten nach dem Straf­gesetz­buch zu.

FS905: Wie unterschiedlich sind die Sanktionsweisen unter den Kantonen? Welche Entwicklung lässt sich hier unter den Kantonen beobachten?

Die Sanktionsweisen können nach unter­schiedlichen Strafarten (unbedingte, bedingte Freiheits­strafe, monetäre Strafe) untersucht werden, wie dies gesamt­schweizerisch in der hinteren Umschlagsgraphik Abb. N.1 gemacht wurde. Ein anderer Weg besteht darin, diese Unter­schiede aus­schliesslich an Hand der unbe­dingten Freiheits­strafe darzustellen, indem diese als Gradmesser für die Sanktions­weisen gewählt wird.

1910, 1960 und 2010 wurden je rund 8000 unbedingte Freiheits­strafen ausge­sprochen, infolge des starken Bevölkerungs­wachstums in den letzten 100 Jahren führt dies zum Abfall der Häufig­keits­zahlen von unbedingten Freiheits­strafen von durch­schnittlichen 400 auf 120 und neuestens auf 90 pro 100’000 Einwohner.

Die Unterschiede zwischen den Kantonen sind gross, liegen doch im Jahr 1910 die grösseren, städtischen Kantone vorne, mit deutlich höheren Fall­zahlen, während die kleineren – und einzelne Kantone ohne Vollzugsanstalt – tiefere Fallzahlen schreiben. 1960 sind es v.a. die Kantone Neuenburg und Basel-Stadt, welche die höchsten Fall­zahlen ausweisen, gefolgt von Kantonen mittlerer Grösse, während periphere Kantone diese Strafen nur noch seltener verhängen. Schliesslich gibt es grössere Unter­schiede im Jahre 2010, wo Genf ganz alleine vorne liegt, gefolgt von den meisten west­schweizerischen Kantonen. Festzuhalten ist, dass kleinere Kantone unbedingte Freiheits­strafen immer zurück­haltend aussprachen, während die drei Kantone Basel-Stadt, Genf und Waadt immer obenauf schwingen. Eine statistische Fest­stellung, die in Zukunft unbedingt näher zu unter­suchen ist.

FS906: Beschreiben Sie die Entwicklung der Häufigkeit der Freiheitsstrafen nach den drei Dauerkategorien.

Die Freiheitsstrafen können unterschieden werden in unbe­dingte Freiheits­strafen bis 6 Monate, die seit 2007 grundsätzlich nur noch in den wenigen vom Gesetz vorge­sehenen Fällen zur Anwendung kommen sollten; eine weitere Kategorie betrifft die über 6- bis 24- monatigen Freiheits­strafen, eine letzte die über 24-monatigen Strafen.

Die markantesten Unterschiede findet man 2010 bei den kurzen Freiheits­strafen. Nimmt man Zürich als Grad­messer, so werden im Kanton Waadt zwei Mal mehr und im Kanton Genf fünf Mal mehr kurze unbedingte Freiheits­strafen ausgesprochen. Basel-Stadt, Neuenburg und Bern kennen Raten von kurzen Strafen, die nahe am schweizerischen Durch­schnitt liegen, während alle anderen 20 Kantone tiefe Zahlen ausweisen. Die Unter­schiede sind stark ausge­glichen im Falle der über 6- bis 24-monatigen Strafen. Da fallen nur die Fall­zahlen pro 100‘000 der Kantone Basel-Stadt und Genf auf. Viel disparater sind die tiefen Fall­zahlen der über 2-jährigen Strafen. Hatte Genf bei den kurzen und mittel­langen Strafen eine Spitzen­position inne, ist dies bei den langen Strafen nicht mehr der Fall; hier führt nun Basel-Stadt, gefolgt von der Waadt und St. Gallen. Die Mehr­heit der Kantone hat weniger als fünf Fälle pro Jahr pro 100’000 Einwohner.

Die Zahlen zur Entwicklung belegen einen klaren Abfall der Fall­zahlen von 1910 bis 2010, am eindeutigsten bei den kurzen Freiheits­strafen. Auch bei den über 6- bis 24-monatigen Strafen ist die Tendenz klar ablesbar. Die Tendenz ist weniger deutlich erkennbar bei den längsten Strafen; Kantone mit vielen langen Strafen sprechen offen­sichtlich zum Teil auch heute noch längere Strafen aus, während eine Mehr­zahl der Kantone dies in viel kleinerem Umfang tut.

FS907: Welche paradoxen Ergebnisse ergibt eine Untersuchung der unterschiedlich strengen Sanktionsweisen der Kantone, wenn die Rückfallrate als Indikator der Sanktionswirkung herangezogen wird?

In den 1990er-Jahren haben das Forscher­team Heinz und Storz an der Universität Konstanz einen Unter­suchungs­ansatz entwickelt, der es erlaubt, die Rückfall­rate zum Vergleich unter­schiedlich strenger Sanktions­weisen einzusetzen. Dabei geht es darum, von vergleich­baren Straf­taten und -tätern auszugehen, d.h. von Personen, die zum ersten Mal wegen aus­schliesslich einer Straf­tat verurteilt wurden, wobei diese Straf­tat sehr häufig vor­kommen muss. Dies ist der Fall bei Fahren in ange­trunkenem Zustand, bei grober Verletzung der Verkehrs­regeln oder bei Diebstahl. Es zeigt sich, dass man unter den 26 Kantonen jeweils drei Gruppen bilden kann mit strengerer, durch­schnittlicherer und weniger strenger Sanktions­weise.

Das paradoxe Ergebnis ist, dass die Unter­suchung keinen Zusammen­hang zeigt zwischen Rückfall­rate und Strenge der Sanktion. Auch im weiteren Rück­fall besteht kein Zusammen­hang zwischen Rückfall­rate und Strenge der Sanktion – d.h. Kantone, die strenger bestrafen, können keine tieferen Rückfall­raten vorweisen. Diese Erkennt­nis belegt die These der Austausch­barkeit der Sanktionen in den Bereichen leichterer und mittlerer Delinquenz.

FS908: Wie interpretieren Sie das Gleichheitsgebot vor dem Gesetz in Anbetracht der unterschiedlichen Urteils-, Sanktions- und der gleichartigen Rückfallraten unter den Kantonen?

Hier sind Ihre eigenen Überlegungen gefragt!

FS909: Betrachten Sie die These ungleicher Behandlung von Straffälligen durch die vorgestellten Daten als stichhaltig? Listen Sie die Gründe für Ihre (positive oder negative) Antwort auf.

Auch hier sind Ihre eigenen Überlegungen gefragt!